12. März 2020
Lesung mit Marcel Krueger im Zeitungs-Café Hermann Kesten

„Was die Großmutter (nicht) erzählt hat…“

Am 12. März 2020 hat der Nürnberger Kulturbeirat zugewanderter Deutscher noch einmal Glück gehabt: Die Lesung „Von Ostpreußen in den Gulag: Eine Reise auf den Spuren meiner Großmutter“ mit Marcel Krueger war die letzte Veranstaltung der Nürnberger Stadtbibliothek, bevor alle Termine aufgrund der Coronavirus-Pandemie auf unbestimmte Zeit abgesagt worden sind. Die Besucherinnen und Besucher kamen so – auch dank der feinfühligen Moderation Steffen Liebschers – nicht nur einer Frau, sondern einer ganzen Generation näher.

Marcel Krueger und Moderator Steffen Liebscher Foto: Andreas Meier

Als Marcel Krueger (geb. 1977) in Solingen aufwuchs, waren Flucht und Vertreibung in seiner Familie nie Thema. Er hörte seine Großeltern zwar immer wieder von einem Hof in Ostpreußen reden, der verloren ging, als „die Russen“ kamen. Doch war dieses Ostpreußen eher ein abstrakter, fast schon märchenhafter Ort, an dem die Wölfe heulten. Je mehr Zeit er aber mit seinen Großeltern verbrachte, desto mehr erzählte die Großmutter Cäcilie, genannt Cilly, von ihrer Kindheit und auch von den vier Jahren, die sie in Russland verbrachte. Nach und nach kamen immer mehr Geschichten zum Vorschein, so etwa über die drei Großonkel, die alle auf unterschiedlichste Weise ihr Leben im Zweiten Weltkrieg lassen mussten.

 

Als Krueger sich als Autor dann endlich bereit fühlte, die Geschichte seiner Großmutter nachzuerzählen, war diese bereits an Alzheimer erkrankt und eine systematische Aufarbeitung ihrer Biographie nicht mehr möglich. Was tut also der Enkel, um seiner Oma möglichst nahe zu kommen? Er recherchiert, forscht nach, befragt andere Zeitzeugen und reist schlussendlich selbst an die Orte, die im Leben seiner Großmutter so tiefe Spuren hinterlassen haben.

So setzt sich das Buch aus verschiedenen Ebenen zusammen, die Krueger beim Lesen von drei Textpassagen auch abbildet: Zum einen sind da die Kindheitserinnerungen des Autors, der als „Oma-Kind“ Stück für Stück mit der Vergangenheit und der Deportation Cillys in Berührung kam. Zum anderen sind da die Erzählungen der Großmutter, die eindringlich aus der Ich-Perspektive schildert, wie beklemmend die Fahrt nach Russland und die Ankunft im Zwangsarbeitslager 1945 waren. Zuletzt sind da aber auch die Erfahrungen des Enkels, der sich 70 Jahre später ebenfalls mit dem Zug auf die Reise in den Osten machte.

Dass das Buch viel mehr ist als die Biographie einer Person, wird spätestens im anschließenden Gespräch mit Moderator Steffen Liebscher klar – er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Memorium Nürnberger Prozesse und kennt eine Biographie wie die von Oma Cilly aus seiner eigenen Verwandtschaft. Das Buch „Von Ostpreußen in den Gulag“ gibt nämlich auch viele Einblicke in Kruegers Leben und Anschauungen. So gibt er etwa im Gespräch zu, mit gewissen stereotypen Vorstellungen in den Osten aufgebrochen zu sein, die er erst mal relativieren musste. Von viel größere Tragweite ist jedoch – und das wird bei den anschließenden Fragen aus dem Publikum deutlich –, dass die Geschichte von Cäcilie für eine ganze Generation von starken Frauen stehen kann, die es auf bewundernswerte Weise geschafft haben, einen Schlussstrich unter das Kapitel der Russlanddeportation zu ziehen und sich mit ihren Familien ein neues, glückliches Leben aufzubauen.

Krueger selbst bezeichnet das Schicksal seiner Oma vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs als „kleines Rinnsal“, ihm war es aber ein Anliegen, Cillys Geschichte stellvertretend für all jene zu erzählen, deren Geschichte vergessen wurde. Das ist ihm bestens gelungen: In Deutschland wissen viele Leser die Themen Flucht und Vertreibung heute noch einigermaßen einzuordnen. In Irland, wo der Autor seit 14 Jahren lebt, ist das nicht der Fall. Kruegers Buch ist 2017 aber zuerst auf Englisch erschienen! So ermöglicht das Buch unter dem Titel „Babushka’s Journey: The Dark Road to Stalin’s Wartime Camps“ nicht zuletzt auch der englischsprachigen Welt, sich mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen.

Thank you, Mr Krueger!

Dagmar Seck

 

zurück