22. Mai 2019
Lesung mit Fredy Gareis im Deutsch-Amerikanischen Institut Nürnberg

Reisen, um „den eigenen Horizont zu erweitern, um zu wachsen, Erinnerungen zu schaffen“

„Fredy Gareis ist ein genauer und kluger Interpret. Ein ungemein substanzielles Buch. Damit hat er sich endgültig in die erste Reihe der Reiseliteraten hierzulande geschrieben“, lobte die Süddeutsche Zeitung das Buch „König der Hobos“. Es ist das dritte Buch des Journalisten und Schriftstellers Fredy Gareis (44), der mit zwei Jahren als Kind russlanddeutscher Eltern aus Kasachstan nach Deutschland kam. Vor den USA war er bereits im Nahen Osten und bereiste Russland auf Spuren der Familiengeschichte. Mit seinen Büchern, die aus diesen Reisen hervorgegangen sind, bringt Gareis seine Leser zum Mitfiebern, zum Lachen und zum Weinen. Am 22. Mai las er auf Einladung des Nürnberger Kulturbeirats zugewanderter Deutscher, der die kulturellen Belange der deutschen Aussiedler und Vertriebenen in Nürnberg vertritt, aus seinem aktuellen Buch vor interessierten Zuhörern im Deutsch-Amerikanischen Institut Nürnberg, dem Kooperationspartner des Kulturbeirats.

Die Versammelten wurden von Dagmar Seck (Projektleiterin des Kulturbeirats zugewanderter Deutscher) begrüßt, die den Autor kurz vorstelle. In „Tel Aviv – Berlin. Geschichten von tausendundeiner Straße“ (2014) radelte Gareis vier Monate lang über 5000 Kilometer durch den Nahen Osten, den Balkan und Osteuropa bis nach Berlin, durchfuhr 16 Länder und sammelte Geschichten der Bewohner mit über vierzig Konfessionen ein. Eine Überlebensregel lautete: Wo Asphalt ist, sind keine Landminen.

In „100 Gramm Wodka. Auf Spurensuche in Russland“ (2015) fuhr er mit einem alten Militärjeep, mit dem Zug und per Anhalter quer durch Russland, um nach eigenen Wurzeln zu forschen. Seine Reise in die Vergangenheit der Familie führte ihn von Sankt Petersburg über Moskau, Tschuwaschien, das Wolgagebiet, den Ural, die Gebiete Omsk und Altai in Sibirien, Kasachstan, den Baikalsee und Jakutien bis nach Kolyma und Magadan am Pazifik – insgesamt 12.000 Kilometer in drei Monaten! In seinem Buch, das „an der Seele kratzt“ (Süddeutsche Zeitung), bringt er dem Leser Russland mit all seinen Facetten näher – mit herzlichen Menschen, aber auch „mit einem misstrauischen Staat, der seine Ohren scheinbar überall hat“ (Gießener Allgemeine).

In „König der Hobos. Unterwegs mit den Vagabunden Amerikas“ schildert Gareis seine Erlebnisse mit heimatlosen nordamerikanischen Wanderarbeitern, die als blinde Passagiere auf Güterzügen kreuz und quer durch die USA reisen. Dreieinhalb Monate reist er mit diesen Überlebenskünstlern, Landstreichern und Vagabunden durch ein Amerika, das die wenigsten kennen – eine Parallelwelt voller Gefahren, Tragik und Komik. „Ich bin gespannt, wie er das noch toppen will“, so Seck, bevor der Autor das Wort ergriff.

Anschließend las Fredy Gareis einige Auszüge aus seinem Reisebuch und erzählte immer wieder – anhand einer USA-Karte mit verzeichneten Routen vom Osten und Süden bis in den Westen des Riesenlandes, anhand kurzer Videos, die atemberaubende Wüsten- und Steppenlandschaften von Nevada und Colorado vorbeiziehen lassen (Gareis: „Landschaften können kranke Seelen heilen“), und anhand zahlreicher Fotos von „einzigartigen“ Menschen, die er auf seiner Reise kennen gelernt hat – den Hobos.

Die amerikanischen Hobos waren ursprünglich Wanderarbeiter und weit verbreitet, ihre große Zeit begann vor rund 150 Jahren mit dem einsetzenden Eisenbahnboom und dem Ausbau des Streckennetzes in den USA. Um schnell und kostenlos von einem Job zum nächsten zu gelangen, fuhren sie mit den Güterzügen durchs Land, lebten ohne festen Wohnsitz und vogelfrei. Heute gibt es schätzungsweise zweieinhalbtausend Hobos in Amerika, viele tingeln allerdings nicht mehr von Job zu Job, sondern versuchen sich als Überlebenskünstler mit Betteln oder Musizieren durchzuschlagen. Die Hobos pfeifen auf den amerikanischen Traum und führen ein Leben außerhalb der Gesellschaft. Getrieben vom Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung sind sie ständig auf der Flucht vor der Polizei, vor paranoiden Bürgern und sich selbst.

Auf seiner Reise vom Osten und Süden bis in den Westen der USA ging auch Fredy Gareis nicht nur einmal an die eigenen Grenzen. Dabei erlebte er Zusammenhalt und Großzügigkeit, die Weite aus Licht und Wind, Einsamkeit und die Kraft des Individuums, Gewalt und Drogen, und dennoch das Glück, arm, aber frei zu sein. Der Hobo-Kult existiert heute noch. Es ist eine verschworene Subkultur mit eigener Sprache, moralischem Kodex und Liedern mit eigenem Ehrenkodex und eigener Lebensphilosophie. 50 Prozent der Amerikaner halten sie für „Schmarotzer“. Aber ebenso viele sehen sie als „Teil der verlorenen Freiheit“, weil sie die Sehnsucht nach Selbstbestimmung verkörpern, so Gareis. Die Hobos seien stolz auf ihren Lebensstil, sie sehen sich selbst nicht als abgehängt, sondern als „die Elite des sozialen Kellers“.

Auch Gareis selbst ist am liebsten unterwegs – Reisen fasziniert ihn seit seiner Jugend, und es hat auch etwas mit seiner Biografie zu tun. 1975 in Alma-Ata/Kasachstan geboren, kam er mit zwei Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland. In Rüsselsheim wuchs er mit vielen Einwandererkindern auf – Spaniern, Italienern, Griechen. Die ersten Reiseerfahrungen sammelte er beim Lesen von Büchern. Mit 16 ist er das erste Mal alleine auf Reisen gegangen – nach Amsterdam, noch lange vor Abitur und Zivildienst. Bis zum Studium schlug er sich als Taxifahrer, Barkeeper, Putzmann oder Medikamententester durch.

„Aufwachsen in einer piefigen Arbeiterstadt hat viel damit zu tun. Die Stadt war mir zu grau, zu langweilig, zu sehr einfach der Arbeit gewidmet. Meine erste große Liebe war die Literatur, und zwischen den Seiten von verstorbenen Autoren entdeckte ich ferne Welten ohne mich fortbewegen zu müssen, aber als ich dann 16 Jahre alt wurde, unternahm ich meine ersten Reisen, und hörte danach nicht mehr auf. Sicherlich hat es auch etwas damit zu tun, dass meine Familie nie in den Urlaub gefahren ist, das Geld hatten wir als Immigranten einfach nicht. Während die ganzen Gastarbeiterkinder, mit denen ich aufgewachsen bin, in ihre Heimatländer in den Sommerferien gefahren sind, trieb ich mich im örtlichen Freibad rum. Das ging mir gewaltig auf den Zeiger, und ich änderte diese Situation sobald ich konnte. Nur dass ich selbst eine Reise nie als Urlaub angesehen habe, sondern als Zweck an sich, um, wie die eigenen Grenzen zu erkunden, neue Menschen kennenzulernen, neue Perspektiven. Kurz den eigenen Horizont zu erweitern, um zu wachsen, Erinnerungen zu schaffen“, erzählt Fredy Gareis.

In Berlin und Hamburg studierte er amerikanische Geschichte und Literatur, gefolgt von einer Ausbildung zum Journalisten in München. Seit 2007 arbeitete Gareis als freier Journalist. Für den Stern recherchierte er fünf Monate lang verdeckt über Scientology. Als Arthur F. Burns-Stipendiat war er 2009 besuchender Redakteur bei der Chicago Tribune. Seit 2010 berichtete er als freier Korrespondent aus Israel und dem Nahen Osten u. a. für Der Tagesspiegel, DIE ZEIT und Deutschlandradio. 2012 erhielt Gareis für eine in DIE ZEIT erschienene Reportage „Ein Picasso für Palästina“ den Journalistenpreis des Deutschen Kulturrats. Für sein Buch „100 Gramm Wodka“ erhielt er den ITB Buch Award 2016. „Weil ich ein großer Fan der amerikanischen Geschichte bin, der Idee der zweiten Chance, des Neuanfangs und der weiten Landschaft im Gegensatz zur kleinen Arbeiterstadt Rüsselsheim. Und der Journalismus, weil das meine Lizenz ist Fragen zu stellen, neugierig zu sein. Drüber hinaus wollte ich immer über das Ausland berichten“, erzählt er über das treibende Motiv seines Lebens.

Inzwischen hat er einige Länder bereits. Auf die Frage, ob hinter diesem Reisefieber das Verlangen nach immer neuen Geschichten, die Sehnsucht nach einem anderen Lebensstil, die Erkundung der eigenen Grenzen oder die Flucht vor sich selbst steckt, antwortet Gareis: „Alles zusammen. Meine Oma meinte immer, ich hätte Hummeln im Arsch. Sie hatte Recht.“ Die Erfahrungen in jedem Land, das er bereist hat, füllen Bücher. Was er bei seinen Reisen gelernt hat, fasst er in ein paar Schlagworten zusammen: „Israel – Widerstandsfähigkeit gegenüber allem, was das Leben dir so ins Gesicht wirft. Russland – Familienliebe, Natur und Leben für den Moment. USA – grenzenloser Optimismus und das großartige Verständnis, dass im Scheitern keine Schande liegt.“

Die Hobos mit ihrem Freiheitsdrang und ihrem Minimalismus haben Fredy Gareis nicht nur berührt, sondern auch sein Leben nachhaltig verändert. Er habe von ihnen gelernt, welch ein Irrweg es sei, das Glück auf dem Kontoauszug zu suchen anstatt zu erkennen, wie wenig der Mensch zum Leben brauche. „Ich bin überhaupt nicht auf der Flucht vor mir selbst, sondern vielleicht ist es eher eine Flucht zu mir selbst“, sagt er in einem Interview. Und erklärt: „Ich finde im Alltag, in diesem Zyklus aus Arbeiten, Miete zahlen, Einkaufen, hysterischen Nachrichten geht mir schnell das Gehör für die eigene Stimme verloren. Deswegen bin ich lieber unterwegs. Auf Reisen bin ich einfach mehr bei mir selbst, und die Welt erscheint mir lebenswerter. Es gibt nur einen Menschen, über den ich kompletten Einfluss habe, und das bin nun mal ich. Das ist meine Art, mich um mich zu kümmern, ein gutes Leben zu führen, das der Tatsache gerecht wird, dass unser Aufenthalt auf diesem Planeten nur gestundete Zeit ist.“

Nach der Rückkehr aus den USA hat er im Sommer 2018 die Wohnung gekündigt und mit seiner Partnerin (ebenfalls Journalistin) über drei Monate im Auto gelebt und umhergereist: „Leben im Auto – vier Räder statt vier Wände“. Danach machten beide einen Trip durch die USA und sammelten Geschichten für die Reportage „Trump – warum lieben ihn so viele Amerikaner“. Derzeit arbeitet Gareis an einem Roman, und im nächsten Sommer wird ein Sachbuch über dieses Leben im Auto auf den Markt kommen. Man darf auf Fredy Gareis auch in Zukunft gespannt sein.

Nina Paulsen

Mehr über den Autor und seine Bücher unter www.fredygareis.com

Flyer Lesung Gareis

zurück