26. Februar 2015
„Die Hoffnung ist ein Hefeteig“ Lesung mit Eleonora Hummel

Man schreibe darüber, was einen bewegt, empört oder entsetzt, sagte Eleonora Hummel zur Frage über die Themenauswahl ihrer Bücher. Auf Einladung des Nürnberger Kulturbeirats zugewanderter Deutscher las die Dresdener Schriftstellerin am 26. Februar 2015 im Zeitungs-Cafe Hermann Kesten in Nürnberg aus ihren Büchern. Die Lesung mit der russlanddeutschen Autorin, die zweite in der Lesereihe 2015, wurde in Kooperation mit dem Bildungscampus Nürnberg veranstaltet. Susanne Schneehorst von der Stadtbibliothek Nürnberg begrüßte die zahlreich erschienenen Gäste aus der Stadt und Umgebung. Die Redakteurin Nina Paulsen (Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.) präsentierte die Autorin und ihr Werk in einer kurzen Vorstellung.

„Die Hoffnung ist ein Hefeteig“, ein Zitat und das Motto der Lesung, beschreibt bildhaft die tragende Idee der Romane von Eleonora Hummel – „Die Fische von Berlin“, „Die Venus im Fenster“ und „In guten Händen, in einem schönen Land“. Das aufschlussreiche Wortbild bedeutet unter anderem, sich nicht unterkriegen zu lassen und immer wieder den Glauben an das Gute und Schöne nicht aus der Sicht zu verlieren. „Glaube und Hoffnung lassen sich nicht totschlagen“, sagt der Großvater in „Die Fische von Berlin“.

In allen drei Büchern kämpfen Männer, Frauen und Kinder um ihr kleines persönliches Glück im Glauben an das Gute – nach den grausamen und verlustreichen Erfahrungen von Deportation, Lagerhaft, Hunger und staatlicher Willkür in der Sowjetunion des 20. Jahrhunderts. Durch authentische Darstellung führen die Texte von Eleonora Hummel erschreckende persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen vor Augen. Sie zeigen, wie Menschen – folgenreich für ihre Schicksale – in den Strudel unmenschlicher Systeme geraten können. Und sie zeigen, dass das Leben trotzdem weiter geht – oft ganz anders als erdacht oder erträumt.

Und so entwickelte sich auch anhand der vorgelesenen Auszüge – jeder davon stellte die jeweilige Hauptfigur sehr plastisch und nachvollziehbar vor – eine lebhafte Diskussion, die nicht nur die Inhalte der Bücher und die Hintergründe ihres Entstehens vertiefte, sondern auch einige spannende Einblicke in die Biografie von Eleonora Hummel gewährte. So gehörte zu den interessierten Gästen auch die Familie Heberle – die früheren Nachbarn der Familie Hummel in Kasachstan: Nelli und Eugen Heberle aus Postbauer-Heng/Neumarkt sowie Galina Heberle und ihre Tochter Julia aus Amberg. Julia hatte sogar ein altes Foto aus den 1970er Jahren mitgebracht, wo sie und Eleonora als kleine Mädchen abgebildet sind.

„Heute bin ich in Deutschland fest verwurzelt. Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben“, sagte Eleonora Hummel in einem Interview. Der Anfang war allerdings auch für sie alles andere als leicht oder einfach. Eleonora wurde 1970 im kasachischen Zelinograd (heute Astana und Hauptstadt Kasachstans) geboren. Als Zehnjährige zog sie mit ihren Eltern in den Nordkaukasus – von hier aus hoffte die Familie schneller auswandern zu können, zahlreiche Anträge auf Ausreise nach Deutschland wurden Jahre lang immer wieder abgelehnt. 1982 durfte die Familie dann doch aussiedeln – in die ehemalige DDR, wo sie sich in Dresden niederließ.

Die studierte Fremdsprachenkorrespondentin und zweifache Mutter ist seit 1995 literarisch aktiv, mittlerweile Autorin von drei Romanen, veröffentlicht Prosa und Artikel in zahlreichen Zeitschriften und tritt bundesweit mit Lesungen auf. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2011 mit dem Hohenemser Literaturpreis (Hauptpreis). 2001 erhielt Eleonora Hummel das Stipendium des 5. Klagenfurter Literaturkurses und 2002 den Russlanddeutschen Kulturpreis (Förderpreis) des Landes Baden-Württemberg für den Romanauszug „Dreizehn Winter“ über die Odyssee einer russlanddeutschen Familie. Für ihren Debütroman „Die Fische von Berlin“ (Steidl-Verlag 2005; 2007 auch als Taschenbuch erschienen) wurde sie 2006 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis geehrt. 2003 bekam Hummel das Literaturstipendium der Stiftung „Künstlerdorf Schöppingen“ und ein Arbeitsstipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen für die Arbeit am Nachfolgeprojekt „Die Venus im Fenster“, das 2009 im Steidl-Verlag herauskam und das Thema von „Die Fische von Berlin“ fortsetzte.

In beiden Buchpublikationen zeichnet die Autorin leidvolle Schicksale, erzwungene und verlustreiche Wanderwege einer Familie, die über Jahrhunderte reichen und kennzeichnend für zahlreiche andere russlanddeutsche Familien sind: Vom Württembergischen bis ins Schwarzmeergebiet im 19. Jahrhundert, von Südrussland nach Deutschland im 2. Weltkrieg, in die Sowjetunion nach dem Kriegsende und zurück aus Kasachstan nach Deutschland in den 80er Jahren bis zum späten Nachzug in den 90er Jahren und heute.

In einer klaren, dichten und beeindruckend bildhaften Sprache, die den Schrecken und das Leid der Vergangenheit noch greifbarer hervortreten lässt, erzählt die Autorin aus der Perspektive eines Mädchens bzw. einer jungen Frau, die immer wieder mit der komplizierten Geschichte ihrer Familie konfrontiert wird und sich gleichzeitig der harten Realität in der neuen Heimat stellen muss. Anregungen für die Bücher konnte Eleonora Hummel zwar aus der Geschichte der eigenen Familie schöpfen, aber vor allem durch weitgehende Recherchen, darunter in Archiven, hat sie ihren beiden Romanen eine beachtliche historische Tiefe gegeben.

Waren die zwei ersten Romane teilweise autobiografisch geprägt, so setzt sich die Autorin in ihrem jüngsten (2013, Steidl-Verlag) Buch „In guten Händen, in einem schönen Land“ mit Frauenschicksalen in sowjetischen Arbeitslagern auseinander. Es geht um Erlebnisse in der Sowjetunion bzw. Russland von 1954 (kurz nach Stalins Tod) bis 1993, die durch Rückblenden in die 1920er und 1930er Jahre ergänzt werden. Der Roman handelt von einer Kindheit im Stalinismus, von immer wieder betrogenen Hoffnungen und dennoch nicht versiegendem Lebensmut der drei Heldinnen. In einem Satz könnte man den Roman so beschreiben: „Zwei Frauen kämpfen um die Liebe eines Kindes“. Der Titel steht im ironischen Kontrast zu dem Inhalt. „Es geht um individuelles Glück in einer unmenschlichen Epoche und darum, wie Menschen in den Strudel der Politik hineingerissen werden. Spannend, mitreißend und erschreckend zugleich“, so in einer Rezension.

2014 war Eleonora Hummel zum ersten Mal nach 30 Jahren in Kasachstan, wo sie im Auftrag des Goethe-Instituts in Almaty ihren Roman „Die Fische von Berlin“ in kasachischer Sprache präsentierte. Das Goethe-Institut fördert mit dem Projekt „Schriftzüge. Übersetzer in Bewegung“ Übersetzungen deutscher Literatur. Auch dazu gab es Fragen, die nicht nur die Eindrücke von der alten Heimat betrafen, sondern auch das Zusammenleben von Deutschen und Kasachen in der Kriegs- und Nachkriegszeit und was der Roman „Die Fische von Berlin“ in kasachischer Sprache bewirken könne. Denn: In ihrem Roman erinnerte die russlanddeutsche Autorin an das Schicksal, das in Kasachstan Menschen verschiedener Ethnien tragen, darunter zahlreiche Deutsche, die in den riesigen Weiten der kasachischen Steppe zerstreut lebten.

Hummels „Bücher sind eine Mahnung daran, wie wichtig es ist, die Menschenrechte zu wahren“, „Man merkt, die Art und Weise, wie Sie schreiben, Ihre Sprache trifft die Seele, nicht nur den Verstand“, „Ihre Bücher und die bildhafte Sprache haben mich fasziniert und viel mehr erzählt als manche historische Broschüren“ – so die wertschätzenden Stimmen aus dem Publikum. „Es hat gut getan, Sie zu erleben“, brachte Horst Göbbel, Vorsitzender des Hauses der Heimat Nürnberg und des Kulturbeirats, die Eindrücke der Zuhörer auf den Punkt.

Zum Schluss bedankten sich Horst Göbbel und Annette Folkendt, Geschäftsführerin des Kulturbeirats, auch im Namen der Gäste, bei Eleonora Hummel für die spannende Lesung – unter anderem mit einem Kalender mit Nürnberger Ansichten aus modernen und früheren Zeiten. So konnte die Autorin, die bereits zum zweiten Mal in Nürnberg weilte, auch ein Stück historisches Nürnberg in ihre Heimatstadt Dresden mitnehmen.

Nina Paulsen