20. September 2013
Lesung Johann Lippet im Zeitungs-Café der Stadtbibliothek Nürnberg

Am Abend des 20.09.2013 fand im Zeitungs-Café „Hermann Kesten“ die mehrfach angekündigte, von der Stadtbibliothek Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Kulturbeirat zugewanderter Deutscher organisierte Lesung des im Banat aufgewachsenen, heute bei Heidelberg lebenden Schriftstellers Johann Lippet statt. Er las eine gute Stunde lang, zunächst aus dem Langgedicht Tuchfühlung im Papierkorb (2012), anschließend aus seinem jüngsten Roman Bruchstücke aus erster und zweiter Hand (2012).

Gewiss war es auch dem angenehmen Ambiente des Veranstaltungsortes (man saß an Tischen und konnte sich nach Wunsch Getränke oder einen Imbiss bestellen) zu verdanken, dass im Anschluss an die Lesung anregende Gespräche über das Gehörte aufkamen, wobei der Autor bereitwillig Auskunft gab, aus der Werkstatt plauderte und – wie bei Lesungen üblich – erworbene Bücher signierte.

Den Hörerzuspruch hätte man sich größer gewünscht, auch wenn einige Lücken im Publikum durch Parallelveranstaltungen erklärbar waren. Frau Susanne Schneehorst von der Stadtbibliothek war eine ebenso freundliche wie aufgeschlossene Gastgeberin, und Frau Annette Folkendt, Geschäftsführerin des Kulturbeirats, hatte das Ihre zu einem entsprechenden Ablauf der Veranstaltung getan.

An der gleichen Stelle wird am 25. Oktober 2013 Franz Hodjak lesen, und es kann Interessenten nur Mut zugesprochen werden, diesen ihnen vielleicht unbekannten, gleichwohl sehr ansprechenden und bestens für Lesungen geeigneten Veranstaltungsort aufzusuchen. Der Zugang zum Zeitungs-Café „Hermann Kesten“ ist wie üblich bis 19 Uhr durch die Stadtbibliothek (Gewerbemuseumsplatz 4), danach über die Peter-Vischer-Str. 3 (links neben der Katharinenruine).

Mit dem folgenden Text hatte Michael Markel die Lesung Johann Lippet eingeleitet:

Einleitung
zur Lesung Johann Lippet im Zeitungs-Café „Hermann Kesten“
Nürnberg, 20.09.2013

biographie. ein muster – unter diesem Titel erschien 1980 im Bukarester Kriterion Verlag Johann Lippets erstes Buch, ein bandfüllendes erzählendes Langgedicht, das inhaltlich bis an den äußersten Rand dessen ging, was unter der rumänischen Parteizensur druckbar war.

Die Biographie, beziehen wir uns als erstes auf sie, setzt beim Schicksal der Eltern an. Aus dem Banat zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert, wird die Mutter krank in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands abgeschoben, schlägt sich nach Österreich durch und trifft dort einen Banater, der sich als Siebzehnjähriger im Herbst 1944 dem Rückzug der Wehrmacht angeschlossen hat und als amerikanischer Kriegsgefangener in Österreich auf freien Fuß kommt. Beide heiraten und kehren mit vier Kindern 1956 ins Banat zurück. „ich, johann lippet“, beginnt der Text, „bin nur indirekt aus den banat, meine mutter brachte mich in österreich zur welt“ (S. 5). Ich füge realbiographisch hinzu: 1951 in Wels.

Auch der Fortgang des Textes baut auf die authentische Biographie des Autors, aus der ich noch den Besuch jener Gymnasialklasse in Großsanktnikolaus hervorhebe, die von der jungen Deutschlehrerin Dorothea Götz so auf Literatur eingeschworen wurde, dass daraus während des Temeswarer germanistischen Studiums die nonkonformistisch denkende und schreibende Autorenverbindung hervorgegangen ist, die seit 1972 unter dem Namen „Aktionsgruppe Banat“ bekannt geworden ist und der auch Herta Müller nahe gestanden hat. Vom Geheimdienst überwacht und drangsaliert, folgten auch sie dem allgemeinen Trend, Johann Lippet verließ 1987 das Banat und lebt seither bei Heidelberg. Dem Schreiben ist er – für einen ausgesiedelten Familienvater keine Selbstverständlichkeit – treu geblieben und hat, sofern ich vollständig gezählt habe, acht Gedichtbände, sechs Romane und drei Bände Erzählungen veröffentlicht.

Biographie als Muster: Lippet erzählt von Anfang an, wie es in dem Roman heißt, aus dem er heute lesen wird, „Lebensläufe als Spiegelbild von Geschichte“ und geht davon aus, dass sich „an Biographien von Deutschen aus dem Banat […] Geschichte exemplarisch ablesen lässt“ (Bruchstücke aus erster und zweiter Hand, 2012, S. 83). Als Herzstück seiner Prosa würde ich darum die nachträglich zur Einheit gefassten Romane Die Tür zur hinteren Küche (2000) und Das Feld räumen (2005) ansehen, denn mehrere andere hängen in irgendeiner Weise mit diesen zusammen.

Die im Debütband aufgemachte Geschichte der Eltern wird hier Maria und Anton Lehnert zugeschrieben, expandiert rückblickend bis zur Generation der Urgroßeltern, progressiv auf die der Enkel. Wie in einem Brennglas bündelt sich im Erleben dieses „rechthaberischen, tratschsüchtigen“ (Bruchstücke …, S. 83), in Streitigkeiten entzweiten, aber auch liebevoll versöhnungsfähigen großen Familienverband die ganze fatale Regionalgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Russland- und Bărăgandeportationen, Enteignungen, Hausentsetzungen, Kolonistenansiedlungen, Kollektivierung und vielfältigen diktatorischen Drangsalierungen, schließlich der Aussiedlung und allen Problemen der Eingliederung in die deutsche Gesellschaft. In der Gestalt von Familienromanen sind es tatsächlich Zeitromane, die Lippet schreibt, exemplarisch für das Banat allemal.

Erzählgegenstand sind ländliche Lebensformen, deren fortschreitender Desintegration Lippet in dem „gottverlassenen“ Dorf W., mit Klarnamen Wiseschdia nachspürt, ehe dieses durch Flucht und Ausreise vollends zum „Geisterdorf“ mit nur noch einem Einwohner wird. In der Erzählung Der Totengräber (1997) lebt dieser als Schlitzohr einträglich von der Hinterlassenschaft der Ausgesiedelten und von einem Verein zur Grabpflege.

Wer Bedarf nach Einordnungen hat, mag also Lippets Romane zur neuen, kritischen artikulierten Dorfliteratur zählen, wie sie einem bei den frühen Franz Innerhofer oder Josef Zoderer, in der Herbstmilch von Anna Wimschneider (1984) oder bei Strittmatter begegnet, in der rumäniendeutschen Literatur gedämpfter bei Hans Liebhardt und Ludwig Schwarz, radikaler in den Kurzgeschichten der Niederungen (1982) von Herta Müller sowie in einigen ihrer frühen Erzählungen.

Johann Lippet hadert zwar mit den historischen Vorgängen, nicht aber mit seinen Figuren. Diese sieht er weitgehend als Opfer nicht verschuldeter und nicht beherrschbarer Zwänge und steht ihnen mit Empathie und unpathetischer Zuneigung gegenüber. Er erzählt zwar auf weiten Strecken auktorial, aber überwiegend aus der Denk- und Wahrnehmungsperspektive seiner Figuren und lässt dosiert deren regional eingefärbtes Deutsch mitklingen. Gewiss erzählt er erfundene Geschichten, aber er erzählt sie detailversessen und aus so genauer Kenntnis der Verhältnisse, dass mir seine Bücher als verbindliche literarische Muster der entschwundenen Banater Welt erscheinen. Ob sie exemplarisch auch für eine Welt jenseits des Banats sind, mögen Sie während der heutigen Lesung zutreffender beurteilen.

Johann Lippet liest heute aus dem 2012 erschienenen Roman Bruchstücke aus erster und zweiter Hand, in dem sich ein in Deutschland geborene Enkel im Jahr 2009 mit folgenden steckbrieflichen Voraussetzungen auf die Spurensuche seines Herkommens begibt:
„Und ich? Kurt Brauner, […] geboren am 7. Juli 1987, Sohn des Gregor Brauner und der Susanne Brauner, geborene Lehnert, Einzelkind, Zivildienst abgeleistet, abgebrochenes Studium der Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg, auf Informatik gewechselt, spricht Deutsch und Englisch, kein Rumänisch, ist auf den Spuren seiner Mutter und seines Großvaters Anton Lehnert im Banat unterwegs.“

Michael Markel