Deutsche im Russischen Reich und in der Sowjetunion

Das Russische Reich war und ist heute noch das größte Land auf der Erde. Bis zum Ersten Weltkrieg 1914 und der folgenden Oktoberrevolution im Jahre 1917 hatte Russland sogar eine gemeinsame Grenze mit dem deutschen und österreichisch-ungarischen Kaiserreich. Danach verliert Russland einige Gebiete im Westen, wie z.B. Galizien und Wolhynien (Stadt Lwow, deutsch Lemberg). Im Nord-Westen werden Finnland und das Baltikum eigenständig. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 verliert Russland alle Republiken in Mittelasien, im Kaukasus, im Baltikum (das ab 1939 wieder zu Russland gehöhrte), am Schwarze Meer die Ukraine, die Lenin erst 1920 gegründet hatte, und im Westen Moldavien und Weiß-Russland. Trotzdem blieb Russland mit 17.125.191 km2 das größte Land der Welt. Es ist mehr als 47 Mal größer als Deutschland (357.022 km², es ist damit auf Platz 62). Von Westen nach Osten erstreckt sich Russland auf einer Gesamtlänge von 9.000 km, vom Norden nach Süden auf mehr als 2.000 km. Die Grenzlänge beträgt 19.990 km und grenzt an 14 Staaten. Die Meeresküste ist 37.653 km lang.

Spuren von den ersten Deutschen in Russland gehen zurück auf das Jahr 961, als die erste deutsche Kirche in Kiew gebaut wurde. Durch die Kirche entstanden die ersten Ehen zwischen russischen Fürsten und deutschen Frauen aus der Elite. So lassen sich in Russland neben Botschaftern und Kirchendienern auch Kaufleute und deren Familien und Verwandte nieder.

Unter Zar Iwan dem Schrecklichen (1533-­1584) wurde eine große Zahl an Fachleuten wie bspw. Handwerker, Baumeister, Architekten, Ärzte, Offiziere u.a ins Land geholt. Um 1643 entstand in Moskau eine deutsche Vorstadt, die sogenannte Njemezkaja Sloboda, die 400 deutsche Höfe zählte. 1682 lebten in der Nemezkaja Sloboda unter 200.000 Moskowiten schon 18.000 Deutsche. Später ließ Zar Iwan der Schreckliche die Sloboda zweimal abbrennen, die Sloboda wuchs dennoch. Erst im Jahre 1929, als die Sloboda ein Sammelpunkt für ausreisende Deutsche wurde, löste Stalin die Siedlung auf und deportierte die meisten Deutschen nach Sibirien.

Zar Peter der Große (1689-1725) war als Kind oft in der Sloboda. Er reiste längere Zeit durch Europa, besonders durch Deutschland, um Russland in ein modernes Reich zu verwandeln. Zum Ende des Nordischen Krieges 1721 war es eine moderne Großmacht. Schon 1705 eröffnete Peter I. das erste Gymnasium in Moskau. Später die Kunstkammer und die Akademie der Wissenschaften St. Petersburg, das erste Museum in Russland. Er baute mehrere Paläste in den Großstädten. Peter I. brachte nicht nur 1702 die ersten Tulpen aus Holland mit, sondern eine große Welle von Offizieren, Wissenschaftlern, Lehrern, Handwerkern, Baumeistern. So öffnete er das sogenannte Fenster nach Europa.

Die größte Einwanderungswelle kam nach dem Manifest der Zarin Katharina II. vom 22. Juli 1763. Katharina war eine geborene deutsche Prinzessin, Sophie Friederike Auguste von Anhalt-­Zerbst, und regierte Russland 34 Jahre lang. Der erste Zug ging 1764 an die Wolga und ab 1782 kamen Auswanderer aus Danzig und Westpreußen in das Gebiet Jekaterinoslas und Tschernigow. 1789 wurden von Mennoniten die Kolonien auf und an der Insel Chortitza am Dnjepr gegründet. Zu dieser Zeit lebten in St. Petersburg schon rund 17.000 Deutsche. 50 Jahre nach der Ansiedlung an der Wolga bestanden schon 100 Mutterkolonien.

Nach dem Einladungsmanifest von Katharinas Enkelsohn Alexander I. vom 20. Februar 1804 wurden Deutsche im Schwarzmeergebiet, auf der Krim und im Kaukasus angesiedelt. 10 Jahre später (1814-1824) wurde Bessarabien hauptsächlich von Schwaben, Pfälzern, Bayern, Mecklenburgern, Pommern, Schlesiern, Brandenburgern, Deutschen aus dem Warschauer Raum sowie einigen Sachsen besiedelt. In der gleichen Zeit (1816-1861) entstanden Siedlungen durch Auswanderer aus Westpreußen, durch Rheinländer, Pfälzer und Schwaben in Wolhynien.

Zum Beginn des 20. Jahrhunderts gab es schon 200 Mutter- und nochmal so viele Tochterkolonien an der Wolga. Etwa die gleiche Zahl an Kolonien entstand am Schwarzen Meer. Dazu noch über 1000 Chutors (Bauerhöfe). In deutschem Besitz befand sich 12.004.559 Hektar Land, eine Fläche so groß wie Saarbrücken. Dazu etwa noch einmal so viel Pachtland. Deutsche waren die achtgrößte und bestausgebildetste Nation Russlands. In der Ziviladministration waren 32% Deutsche beschäftigt, im Reichsrat 36%, im Senat 33%, bei der Marine 39%, im Militär (Offiziere) 45%, in der Reichskontrolle 18% und beim Post – und Telegraphenwesen 62%. Im Jahr 1910 hatten die Deutschen im Schwarzmeergebiet 47.538 km² Land. Niedersachsen hat heute ungefähr das Gleiche (47.618 km²). Reiche Bauernfamilien wie bspw. die Familie Falz-Fein bei Melitopol hatten Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 300.000 Dessjatine Land, zusätzlich 800.000 Schafe. Im Jahre 1913 verkaufte die Familie 100.800 Tonnen verschiedener Güter nach Europa. 1884 gründete die Familie den Naturpark Askania Nowa mit einem Zoo und vielen exotischen Pflanzen und Tieren. Sie hatten eine eigene Fischerflotte mit Konservenfabriken. In ihren Betrieben wurde erstmals in Russland Ende des 19. Jahrhunderts eine Alters- und Krankenversorgung eingeführt. Der Fortschritt und Wohlstand, den die Deutschen mit Mühe und Schweiß ins Land brachten, brachte ihnen auch negative Auswirkungen. Die Größe des Grundbesitzes und der Anteil deutscher Beamter in allen Bereichen erreichten Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Neid, Eifersucht, Misstrauen, Feindseligkeit und Hass auf alles Fremde kam nicht nur vom Volk, sondern auch von der Elite, die es an die Regierung weitergab. Durch das Gesetz vom 4. Juni 1871 wurden alle Privilegien, die Katharina I. versprochen hatte, abgeschafft. Am 13. Januar 1874 wurden die Wehrpflicht und russische Sprache in den deutschen Kolonien als Pflicht eingeführt. Dies führte zur Massenauswanderung ins Ausland. 1872-1873 wanderten rund 13.000 Mennoniten nach Nordamerika aus. 1901-1911 noch einmal rund 105.000 deutsche Siedler aus Russland. Die Auswanderung ging überwiegend nach Nord- und Südamerika. Um dies zu verhindern, versprach die Regierung den Siedlern Land in Sibirien. So entstanden die ersten deutschen Siedlungen 1895 bei Akmolinsk, heute Astana in Kasachstan. Nach einem Ukas von 1906 von Innenminister Stolypin gingen von 1908-1914 etwa 2,8 Millionen Menschen nach Sibirien, davon viele Deutsche.

Nach der Oktoberrevolution 1917 mit der Machtübernahme der Kommunisten kamen auf die Sowjetunion zwei Weltkriege zu, in denen die Deutschen als „Fünfte Kolonne“ benannt wurden. Inzwischen kamen zwei Hungersjahre, 1921 und 1933, Enteignungen, Deportationen in den Jahren 1928 und 1930 und Repressalien 1937-1938, bis zur vollständigen Auflösung aller deutschen Siedlungsgebiete 1941. Auch die Wolga-Republik, in der mit Lenins Zusage 1918 die Arbeitskommune gegründet worden war und die 1924 in Wolga-Republik umbenannt worden war, wurde aufgelöst. Auch alle Nationalrayons wurden aufgelöst. Allein in der Ukraine, die selbst erst als Volksrepublik 1917 gegründet worden war, gab es bis 1930 acht deutsche nationale Rayons und 252 deutsche Dorfsowjets. Kurz vor dem Krieg wurde in allen deutschen Schulen, außer in der Wolga-Republik, russisch unterrichtet. Die Kirchen wurden schon 1928 geschlossen und alle Kirchendiener verbannt oder umgebracht. Die Zahl der Deutschen halbierte sich im Vergleich zur Volkszählung 1897. Die Massendeportation 1941 und die Zerstreuung in ganz Sibirien, die Einberufung in die Trudarmee, das Verbot der deutsche Sprache und später die Rückkehr in die deutschen Siedlungsgebiete sowie die Hindernisse bei der Ausbildung brachten negative Folgen. Die Deutschen wurden eine von den am schlechtesten ausgebildeten Nationen Russlands. Erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde es leichter, aber danach kam die Perestroika und die Welt brach wieder zusammen. Von fast zwei Millionen Deutschen in der UdSSR wanderten die meisten aus. Im Jahr 2017 lebten noch etwa 350.000 (0,41%) Deutsche in Russland und 160.000 in Kasachstan.

Michael Wanner

Homepage: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.

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