Keineswegs geglückte Neuordnung! Das war das eindeutige Fazit des Wortwechsels zwischen Dr. Lilia Antipow (Deutsche aus Russland) und Dr. Konrad Gündisch (Siebenbürger Sachse) am Ende einer spannenden Diskussion im Hirsvogelsaal des Museums Tucherschloss in Nürnberg am 11. November 2018. Also genau 100 Jahre seit dem Kriegsende 1918.
Eingeladen hatte der Nürnberger Kulturbeirat zugewanderter Deutscher zwei Kenner der Materie: Dr. Lilia Antipow, Historikerin, Slawistin und Filmkuratorin (Schwerpunkt Russland/Sowjetunion) und Dr. Konrad Gündisch, Historiker mit Schwerpunkt Südosteuropa („aktuell Schlossherr von Schloss Horneck“). Sie sollten vor allem den Osten Europas nach dem Ende des Ersten Weltkrieges näher beleuchten, was sie ausgiebig taten. Wie weitgehend bekannt, bedeutete das Ende des Ersten Weltkrieges vor allem für Mittel- und Osteuropa eine vielschichtige Neuordnung (Der Historiker Michael Wolffsohn sagt: „Die danach geschaffene Ordnung war eine totale Unordnung.“): Die bis zum Krieg in diesem Raum existierenden drei Kaiserreiche – das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und das Russische Zarenreich – verschwinden von der Landkarte Europas. Sie machen Platz einem Konglomerat von neuen Staaten – von den einen sehnsüchtig gewünscht, von den anderen furchtbar beklagt –, in denen sich politische, soziale, kulturelle Probleme en masse türmten.
Nach einem feinfühligen musikalischen Einstieg – der Gitarrist Johannes Künel ließ uns eine Milonga von Juan Buscaglia genießen – hieß Josef Balazs in seiner jovialen Art das Publikum im Hirsvogelsaal willkommen – den schützenden Zeus an der Decke eingeschlossen („Über uns wacht Zeus. Es kann uns nichts Schlimmes passieren.“) –, stellte die beiden Protagonisten des Abends vor und bot ihnen zum Einstieg ein wenig Glatteis an: „Nach einem Krieg gibt es Gewinner und Verlierer. Am 11. November 1918 wurde im Wald von Compiègne der Waffenstillstand zwischen dem besiegten Deutschen Reich und den siegreichen westlichen Alliierten unterzeichnet. Hundert Jahre nach 1918, was ist angesagt: Feiern oder Gedenken?“ Klar, es sei beides, jedoch gehe es in erster Reihe um Erinnern, um Reflexion über die komplexen historischen Zusammenhänge dieser „entscheidenden Stunde für Osteuropa“ (Antipow). Betrachte man Europa als Ganzes, gäbe es keinen Grund zum Feiern, denn die Neuordnung Europas sei „keineswegs geglückt“, sie führte knapp zwanzig Jahre später in den Zweiten Weltkrieg, auch wenn man je nach Perspektive (etwa in Warschau, in Prag oder in Bukarest) gute Gründe habe, in Feierlaune zu sein, was sich in großangelegten Jubiläumsfeiern in zahlreichen osteuropäischen Staaten aktuell zeige. („Politik lebt auch von Symbolen“, Gündisch). Die Umsetzung der von US-Präsident Wilson vom Januar 1918 verkündeten 14 Punkte zur Beendigung des Krieges – u.a. Selbstbestimmungsrecht der Völker – habe trotz hehrer Erklärungen (etwa der rumänischen Nationalversammlung in Alba Iulia vom 1.12.1918 mit ihren großzügigen Rechten für Minderheiten) keine belastbaren demokratischen Strukturen in Osteuropa zutage gefördert. Noch mehr, „aus Wilsons Minderheitenschutz wurde neuer Nationalismus geboren. Aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde das Selbstbestimmungsrecht der Mehrheitsethnie“ (Gündisch). Zugleich wurde klargestellt, dass der Visionär Wilson seine Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker bzw. den Vorschlag zur Gründung des Völkerbundes einerseits als Reaktion auf die bolschewistische Oktoberrevolution von 1917 dem Internationalismus-Anspruch der russischen Bolschewiki entgegenstellte („sie wollten die Weltrevolution“), zugleich sich bei den Friedensverhandlungen 1919 auch der stark nationalistischen Realpolitik insbesondere Frankreichs und Großbritanniens nach Kriegsende beugen musste (Antipow). Wie sehr Ungarn (wie auch Deutsch-Österreich) als Kriegsverlierer verkleinert wurde und hinnehmen musste, dass große Teile des ungarischen Volkes nun als keineswegs wohlgelittene Minderheit in Nachbarstaaten leben gezwungen war (im neuen Großrumänien ca. 1,5 Mio., in der Tschechoslowakei ca. 500.000, im neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen – Jugoslawien – auch ca. 500.000) und damit neue Konfliktursachen entstanden, beleuchtete Dr. Gündisch auch am Beispiel der Teilung des Banats, genauer am Beispiel des geteilten Dorfes seines Großvaters im serbisch-rumänischen Grenzgebiet Lunga bei Großkomlosch. Dagegen war die Nationalitätenpolitik in der jungen Sowjetunion trotz ideologischem Dauerdruck eher progressiv: die vielen Völkerschaften der UdSSR – weit mehr als 100 – genossen weitgehend kulturelle Autonomie – siehe Wolgadeutsche Republik (Antipow). Dies sei de facto in der Donaumonarchie – sie wurde oft als Völkergefängnis bezeichnet und dennoch blüht seit Jahrzehnten in ihren Nachfolgestaaten auch eine weitverbreitete Habsburgernostalgie „ganz virulent und vehement“ – heute anders zu beurteilen. War sie wohl doch auch (positiv eingeordnet) eine Art (Vorläufer) „Modell für das vereinte Europa?“ (Gündisch). Auch wenn im Rückblick manche Entwicklung nach 1918 in dem einen oder anderen Staat positiv bewertet werden könne, sei die Neuordnung für Europa als Ganzes keineswegs geglückt, erklärten abschließend beide Historiker.
Eine gute Stunde nach Beginn des Wortwechsels gab es einen weiteren musikalischen Leckerbissen von Johannes Künel: Classical Gas von Mason Williams. Anschließend hatten wir bei einem Glas Wein die passende Gelegenheit, im Gespräch miteinander das Diskussionsthema zu vertiefen und einen runden Abend mit Tiefgang zu beschließen.
Horst Göbbel
Flyer WortWechsel Neuordnung Europas