6. Oktober 2016
Bild-Vortrag über Hauptmanns ‚Heldinnen‘ mit PD Dr. Jürgen Nelles

Starke Frauen oder schwaches Geschlecht?

Alte Bekannte neu kennengelernt

Wie schön, wenn ein Literaturwissenschaftler nicht nur für sich und die Fachwelt forscht, sondern seine Erkenntnisse auch mit der interessierten Öffentlichkeit teilt: Anlässlich des 70. Todestages Gerhart Hauptmanns (1862-1946) ist Dr. Jürgen Nelles eigens von Bonn nach Nürnberg gereist, um sich im Zeitungs-Café Hermann Kesten dem Nobelpreisträger Hauptmann mal über dessen Frauenfiguren zu nähern. Dr. Nelles ist Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Uni Bonn und kann neben seiner Lehrtätigkeit und seinen Publikationen eine rege Referententätigkeit aufweisen. Vorträge über Böll, Hesse, Kafka, Morgenstern oder auch den literarischen Widerstand während des Ersten Weltkriegs hat er bereits gehalten, und er weiß, wie er dem Abend das i-Tüpfelchen aufsetzt: mit einer Vielzahl von Bildern. Fotos des Schriftstellers und seiner Familie, Wohnhäuser, Stadtansichten, Landschaftsaufnahmen… wie bereichernd es ist, das gesprochene Wort durch Bilder veranschaulicht zu bekommen!

Der Vortrag folgt im Grunde Hauptmanns Biographie und kontextualisiert dadurch die Werke, auf die Jürgen Nelles jeweils im Detail eingeht: Bahnwärter Thiel, Vor Sonnenaufgang und Der Biberpelz. Es ist gut nachzuvollziehen, wo Hauptmann die Kenntnisse und Erkenntnisse gewonnen hat, die er in seinen Werken ausbreitet, z.B. die einfache Sprache der Leute, die Armut der Weber etc. Auch und im Besonderen wird dabei natürlich deutlich, welche Rolle die Frauen in seinem Leben gespielt haben. Sie sind nicht nur immer wieder Anlass für Hauptmann, etwas zu schreiben – und dabei seine Gefühle zu verarbeiten. Sie sind auch dezidiert Inhalt seiner Stücke und Schriften, denn Hauptmann behandelt nicht nur die „Soziale Frage“, sondern auch die „Frauenfrage“. Die Frauen stellt er dabei so vielfältig dar, wie sie auch schon damals waren: versoffen, naiv, ehrlich, diebisch, gutgläubig, mutig. Doch er klagt nicht an, vielmehr thematisiert er die sozialen Missstände und leitet daraus ein Widerstandsrecht ab. Die Reichen und die Männer in jedem Fall, die kommen bei ihm schlecht weg.

Dass er selbst am Ende beides war, außer männlich auch noch reich, will man ihm gerne nachsehen, hat er doch v.a. in seinem frühen Werk sozusagen als Chronist seiner Zeit den Blick für die damaligen Nöte und Ungerechtigkeiten geschärft. Seine Beschreibungen sind ganz dem naturalistischen Prinzip verschrieben und waren dadurch brutaler und schonungsloser als es seinen Zeitgenossen lieb war. Dass Hauptmann Alkoholsucht, Inzest, Sexualität und Triebhaftigkeit so offen darstellte, beschwor immer wieder Skandale herauf. Beispiele dafür bringt Jürgen Nelles in seinem Vortrag immer wieder, sodass einige Zuhörer am Ende des Abends halb schockiert, halb belustigt anmerken, dass sie Hauptmanns Frauen in der Schule irgendwie züchtiger kennengelernt hatten…

Wer nun auf den Geschmack gekommen ist und noch mehr über Hauptmann wissen will, kann sich bald eine neue Publikation zulegen: Demnächst wird Dr. Jürgen Nelles in der Reihe Literatur kompakt des Marburger Tectum-Verlags ein neues Buch über den Schriftsteller veröffentlichen.* Man hat sagen hören, dass auch hier wieder zahlreiche Bilder zu finden sein werden.

Dagmar Seck

*Jürgen Nelles, Gerhart Hauptmann, Tectum Verlag, Baden-Baden, 2018. ISBN 978-3-8288-4016-4.

Über den Vortrag

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