Auf der Suche nach der eigenen Identität
Das Werk der Gebrüder Schnittke im Fokus
Am 27.9.2013 stand im Haus der Heimat Nürnberg nicht das Leben der jüdisch-deutschen Familie Schnittke in der wolgadeutschen Sowjetrepublik im Vordergrund, sondern das Schaffen der beiden Söhne Alfred und Viktor. Der Schriftsteller Viktor gab, wie die Journalistin Nina Paulsen ausführte, mit seinen Gedichten und Erzählungen der russlanddeutschen Volksgruppe eine Stimme, die durch Deportation und Zwangsarbeit in alle Winde zerstreut worden war. Früher als viele andere ergründete er bereits in den 1970ern seine Wurzeln und brach somit das „jahrzehntelange Schweigen“ seiner russlanddeutschen Landsleute. Er schrieb auf Englisch, Russisch und Deutsch und veröffentlichte ab 1972 zahlreiche Gedichte in deutschsprachigen Periodika, Almanachen und Sammelbänden. Auch dem Tod seiner wolgadeutschen Mutter antwortete er auf Deutsch:
Ich hab mich in fremde Sprachen verirrt,
zu fremden Stämmen gesellt.
Mit vierundzwanzig steh ich verwirrt
in einer fremden Welt.
Der Heimweg wird wohl ein weiter sein.
Ich fürchte, ich schaff es nicht.
Als Wegweiser da – ein beschriebener Stein,
dort – ein erloschenes Licht.
Viktors älterer Bruder Alfred drückte sich und seine Gefühle hingegen auf einem ganz anderen Gebiet aus, und zwar in der Musik. Mit der von ihm entwickelten Polystilistik gilt er als einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Die Musikerin und Konzertpädagogin Ingrid Hutter lud deshalb das Publikum mit Hilfe von Hörbeispielen ein, sich der von den Konzertgängern allzu häufig umschifften Insel der Neuen Musik anhand einiger Kompositionen Schnittkes emotional und rational zu nähern. Die Zuhörer sollten sich dabei zunächst wie Touristen in einem fremden Land der neuen, unverständlichen Sprache um sich herum öffnen, das heißt übertragen: den neuen Melodien und Harmonien. Um die Musik auch rational, also mit dem Verstand besser zu begreifen, erhielten die Zuhörer Hintergrundinformationen zu Alfred Schnittkes Leben und Werk. So erfuhren die Besucher, dass Schnittke stets auf der Suche nach seiner nationalen und kulturellen Identität war und seine Arbeit bestimmt war von der künstlerischen Unfreiheit in der Sowjetunion. Prägend für sein Schaffen und seine (finanzielle) Existenz war zudem, dass er jahrelang für den Film komponierte. Ein weiteres Charakteristikum seines Werkes, das dem Zuhörer in keinem Fall entgeht, ist die bewusst zugelassene und unterbewusst erfahrbare Emotionalität seines Werks.
Mehr Musik dieses unangepassten, in Russland lange Zeit verfemten Querdenkers kann man am 5.10.2013 um 19 Uhr in einem Konzert hören, das der Nürnberger Kulturbeirat zugewanderter Deutscher im Heilig-Geist-Saal veranstaltet.
Dagmar Seck